Versuch ‘Sucht‘ zu definieren

‘Sucht‘ ist ein Wort, unter dem sich jeder und jede etwa vorstellen kann. Will man ‘Sucht‘ aber genauer definieren, erweist sich das  – wie üblich bei psychologischen Begriffen –  als recht schwierig, wenn die Definition umfassend sein soll, so dass sie auch substanzlose Süchte, zB Spielsucht, und auch kontrollierte Süchte noch miteinbezieht. Hier folgt der Versuch, zu einer solchen Definition zu kommen.

 

1.  Bedürfnis

Das auffallendste an einer Sucht ist zweifellos das dringende Bedürfnis. Die Folgen für schwer Süchtige sind bekannt: Alles wird dem Ziel, das Bedürfnis zu befriedigen, untergeordnet. Wenn aber auch kontrollierte Süchte unter eine Definition fallen sollen, dann kann man nicht von den Folgen ausgehen, weil da sind die Folgen bekanntlich anders.

Hingegen bleibt das Bedürfnis sozusagen als treibende Kraft der Sucht. Allerdings hat der Mensch viele Bedürfnisse, schwächere und stärkere und ganz verschiedenster Art. Die meisten davon bringen bei den meisten keine Sucht hervor. Was unterscheidet das suchterzeugende Bedürfnis von andern?

Es gibt suchterzeugende Bedürfnisse, die praktisch nur Süchtige kennen, zB Heroin, solche, die einige kennen, Süchtige und Nichtsüchtige, aber nicht alle, zB Alkohol, Glücksspiel um Geld, und solche, die alle verspüren, zB Essen. Das ist allerdings ungenau: Das grundlegende Bedürfnis ist nicht ‘Heroin‘ und ‘Alkohol‘, sondern die entspannende, wohltuende oder sogar ‘seelisch wärmende‘ Wirkung, davon. Das Spielen von Glücksspielen ist sicher nicht allen ein Bedürfnis, aber der Spieltrieb ganz allgemein ist in allen Menschen vorhanden. So gesehen ist es fraglich, ob die zugrundeliegenden, ursprünglichen Bedürfnisse nicht doch generell menschlich sind.

Wie dem auch sei, die Heftigkeit, mit der sich die Bedürfnisse bemerkbar machen ist sicher individuell verschieden, für die Süchtigen ist sie gross. Aber das allein ist es nicht: Obwohl jeder das Bedürfnis nach essen, dh Hunger hat, und es wohl kaum jemanden gibt, der noch nie Heisshunger verspürt hat, sind Fresssüchtige selten.

Trotzdem steht fest: Für eine Sucht braucht es ein Individuum mit einem heftigen Bedürfnis.

 

2.  Individuelle Befriedigung

Jeder und jede versucht seine Bedürfnisse zu befriedigen, auch heftige. Typischerweise kommen die Bedürfnisse nach einer gewissen Zeit wieder neu und müssen wieder befriedigt werden, so muss, ganz banal, für Hunger und Durst (nach Wasser) schon nach ein paar Stunden Nachschub beschafft werden.

Nicht sicher ist, ob ich mein Bedürfnis jeweils zu 100% befriedigen kann oder nicht. Wenn nicht, dann muss ich mich eigentlich immer um das Befriedigungsmittel bemühen, das Bedürfnis besteht ja ständig.

Es liegt nahe, dass dieses ständige Bedürfnis das Problem der Süchtigen ist. Die Sucht wäre also dieses ständige Bedürfnis, ein Bedürfnis das nie 100%-ig befriedigt wird.

Offensichtlich spielen auch individuelle Unterschiede eine entscheidende Rolle. Alle essen, nur wenige sind fress-süchtig, auch Süchtige nach Schokolade dürfte eine kleine Minderheit der Schokolade-Konsumenten sein.

Zur Definition einer Sucht gehört also neben dem Bedürfnis, das Individuum, das dieses Bedürfnis nie völlig befriedigt.

 

3.  Befriedigungsmittel

Denkt man weiter, so zeigt sich schnell, dass auch die Wahl des Befriedigungsmittel erheblich ist. Das Bedürfnis nach Wärme, Geborgenheit, dem aufgehoben Sein unter den Menschen kann sicherlich befriedigt, ja sogar übermässig ‘‘bedient‘‘ werden, etwa durch eine intensive Bemutterung; die Betroffenen wollen ‘‘frei‘‘ sein, in der Regel ohne genau sagen zu können, was sie damit meinen. Versucht man aber dieses Bedürfnis mit Heroin zu befriedigen, gibt es nie eine vollständige Befriedigung.

Demnach hat jede Kombination von Bedürfnis und dieses Bedürfnis wenigstens teilweise befriedigendes Mittel das Potential, eine Sucht zu generieren. Jedes Individuum, das dieses Bedürfnis hat und dieses Mittel verwendet und andere Befriedigungsmittel (sofern vorhanden) ablehnt oder nicht erlangen kann, leidet unter dieser Sucht, sei es durch seinen Verstand kontrolliert oder weniger kontrolliert.

Definition ‘Sucht‘, Formulierung A:

Ein sucht ist ein Tripel von ‘Individuum‘, ‘Bedürfnis‘ dieses Individuums, und ‘Befriedigungsmittel‘, das dieses Individuum einsetzt, dieses Bedürfnis zu befriedigen, wobei die Befriedigung nie vollständig gelingt.

 

4.  Umformulierung

In der Mathematik unterscheidet man streng, ob etwas grösser (>) oder nicht kleiner (≥) ist. Im realen, nicht (mathematisch) abstrahierten Leben existiert dieser Unterschied nicht. Schon in der Physik gibt es ihn nicht, weil man immer einen Fehler, meistens einen Messfehler, in Rechnung stellen muss. Wenn ich garantieren muss, dass ein Stück Material mindestens 1 Meter lang ist, dann muss ich in Praxis sicherstellen, dass er länger als 1 Meter ist, weil ich eben nie ganz genau messen kann. Das gilt umso mehr in den Wissenschaften, bei denen Messungen grundsätzlich schwierig sind.

Für Bedürfnissen und ihrer Befriedigung bedeutet das Folgendes: Wenn eine 100%-ige Befriedigung möglich ist, so gibt es auch ein Übermass an Befriedigung, also zu viel des Guten. Dass es übermässige Befriedigungen gibt, steht ausser Zweifel. Im Fall des Essens gibt es dafür die Bezeichnung ‘Übersättigung‘. Das Wort lässt sich verallgemeinert für alle Befriedigungen gebrauchen.

Diese Übersättigung ist zu unterscheiden von zwei anderen Phänomenen:

Erstens liegt Unmöglichkeit der Übersättigung nicht bereits dann vor, wenn das Bedürfnis schon nach relativ kurzer Zeit wieder auftaucht, gerade beim Essen ist das notorisch. Übersättigung heisst, dass (zeitlich begrenzt) eine Art Antibedürfnis besteht: Wer zu viel gegessen hat, dem wird schon beim Anblick von Essen leicht übel.

Zweitens muss Übersättigung auch unterschieden werden, von (negativen) Nebenwirkungen, die den weiteren Konsum eines Befriedigungsmittels eine Zeit lang hemmen oder gar verhindern. Wer Alkohol trinkt riskiert einen Kater, wer zu viel Schokolade isst, dem wird schlecht. Das heisst aber nicht, dass der oder die Süchtige nicht weiterhin und auch im Moment, das Bedürfnis verspürt, weiter zu trinken respektive Schokolade zu essen.

Wir halten fest: ‘100%-ige Befriedigung möglich‘ ist gleichbedeutend ist mit ‘Übersättigung möglich‘. Somit können wir unsere Formulierung der Suchtdefinition anders formulieren, ohne inhaltlich etwas zu verändern:

Definition ‘Sucht‘, Formulierung B:

Ein Sucht ist ein Tripel von ‘Individuum‘, ‘Bedürfnis‘ dieses Individuums, und ‘Befriedigungsmittel‘, das dieses Individuum einsetzt, dieses Bedürfnis zu befriedigen, wobei keine Übersättigung möglich ist.

Was sich üblicherweise bei einem Übermass an Befriedigungsmittel in sein Gegenteil verkehrt, in eine Abneigung umwandelt, bleibt bei den Süchtigen bestehen. Die Sucht wäre also dieses ständige Bedürfnis, ein Bedürfnis das nie übersättigt wird.

OBS: Es ist weiterhin völlig offen, in wie weit das Individuum seine Sucht kontrolliert.

 

5.  Diskussion

Obwohl Formulierung A und Formulierung B inhaltlich identisch sind, kommen sie gefühlsmässig verschieden an. Formulierung A hat den Vorteil, dass sie einigermassen plausibel erscheint. Der Vorteil von Formulierung B ist, dass sie leichter überprüfbar ist.

Dass das Individuum, das Bedürfnis und das Befriedigungsmittel zum Kern einer Sucht gehören, lässt sich kaum bestreiten. Eine andere Frage ist, ob die Definitionen genügend eng sind. Das sei hier offen gelassen.

Man kann sich schliesslich fragen, warum Menschen so sehr zu Süchten neigen. Im Tierreich kommen Süchte zwar auch vor, spielen aber eine viel kleinere Rolle. Das mag an den technischen Möglichkeiten liegen, die der Mensch entwickelt hat. Eine andere Hypothese sieht den Sex als die angeborene Urform der Süchte an. Auch da gibt es keine Übersättigung (die männliche Refraktärphase würde ich als Nebenwirkung klassifizieren). Glaubt man der These von Desmond Morris, so ist Sex für Menschen wichtiger als für alle anderen Tiere.

 

28.03.2021